Missbrauch ist ein Verbrechen, die schützende Institution veränderungsbedürftig und die Systemträger*innen mitschuldig.
In den letzten Wochen ist es nicht leicht, katholisch zu sein, in der Katholischen Kirche zu arbeiten, das wird jede*r verstehen… aber war es das je? Als ich mich vor über 25 Jahren aufmachte, um Gemeindereferentin zu werden, haben viele Freund*innen prophezeit, ich sei „zu frei“ für die Kirche, habe ein zu loses Mundwerk, ich werde zwischen die Fronten geraten. Die ein oder andere Auseinandersetzung gab es, aber keinen Absturz… Warum? Ich bin ein systemunterstützendes Teil unserer Kirche. Es ist richtig, in den vertuschten Missbrauchsfällen die Männerkirche zu bemühen, die Verantwortlichen (Bischöfe) zur Rechenschaft zu ziehen (interessanterweise stets „die Vorgänger“, wie in den Bistümern Hildesheim und Freiburg, den ersten, die sich dazu äußerten[1].). Und dennoch, während ich mir selber zuhöre in den Rechtfertigungssätzen dieser Tage („Wir haben das so nicht gewusst. Ja klar, es gab Gerüchte, hinter vorgehaltener Hand, (der Priester N.N. sei versetzt worden, er solle etwas mit Kindern haben, ach nein, alles eine Frage der Zeit, bis das am neuen Ort auch offenbar wird), aber etwas Genaues wussten wir auch nicht.“ – „Und auch wenn, wohin hätte man das denn melden sollen? Es gab ja gar keine Ansprechpartner und die Wahrscheinlichkeit, dass man dann selber mit drinhing, war ziemlich hoch.“ – „Das ist halt so in diesem geschlossenen System, man will ja auch keinen Kollegen anklagen, nachher ist das haltlos, und nur, weil er ein Problem mit Nähe und Distanz hat, gleich den ganzen Apparat bemühen?“ – „Als Gemeindereferentin hat man ja keine Verantwortung…“, „Wenn man im System Kirche gehört werden will, darf man nicht alles sagen, was man denkt und nicht alles offenbaren, was man tut…“) höre ich andere Sätze aus anderen Zeiten mit, die ganz ähnlich klingen.
Ich erschrecke vor meinen eigenen Worten.
Die Autoren der über 300 Seite starken Missbrauchsstudie sind sich einig darin, dass die Strukturen der Kirche sich ändern müssen: „Das Risiko sexuellen Missbrauchs von Kindern innerhalb der Strukturen der katholischen Kirche ist kein abgeschlossenes Phänomen. Die Problematik dauert an und verlangt konkrete Handlungen, um Risikokonstellationen zu vermeiden bzw. so weit wie möglich zu minimieren. Die Untersuchungsergebnisse machen deutlich, dass es sich beim Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche nicht nur um das Fehlverhalten Einzelner handelt, sondern dass das Augenmerk auch auf die für die katholische Kirche spezifischen Risiko- und Strukturmerkmale zu richten ist, die sexuellen Missbrauch Minderjähriger begünstigen oder dessen Prävention erschweren.“ (MHG-Studie, Kapitel Zusammenfassung A4).[2]
Seit Anfang des Jahres habe ich eine Zahnentzündung. Sie stresst mich nicht wirklich, aber sie ist immer wieder Thema. In einer Zeit, in der ich sehr beschäftigt mit anderen Dingen war, hatte ich sie herangezüchtet. Drei Monate lang hatte ich den leichten Druck, den latenten Schmerz ignoriert. Als ich schließlich doch zum Zahnarzt ging, gab er mir zwei Alternativen: ich könne eine Wurzelspitzenresektion machen lassen, um den dauerhaften Druck aus der Entzündung zu nehmen (mit der Gefahr, der Zahn sei nicht mehr so haltbar wie zuvor) oder wir versuchten es mit Antibiotikaspülung, provisorischem Verschluss und in drei Wochen wiederkommen. Ich dachte, das sei der leichtere Weg im Vergleich zur OP. Seit acht Monaten nun bin ich etwa alle drei Wochen beim Zahnarzt. Ich spüre, wie die Entzündung wandert, erst zog sie hinauf in den Knochen, der Druck ging bis zum Auge. Dann langsam wieder zurück Richtung Zahn, der Weg dauerte mehrere Wochen. An manchen Tagen spüre ich nichts. Dann wieder fiept es, pocht und sticht. Manchmal tut es flächig weh und manchmal punktuell. An manchen Tagen denke ich, nichts tut weh; aber ich weiß nicht, ob ich mich vielleicht nur so an den Schmerz gewöhnt habe… Ob es erfolgreich ist? Mein Zahnarzt ist inzwischen zuversichtlich; ich bin so im Prozess gefangen, ich glaube gar nichts mehr.
Ein passendes Bild im Vergleich?
Kann sich eine Kirche, in deren Knochen eine so fette Entzündung sitzt, selbst heilen?
Spülung 1: Die Missbrauchsfälle ahnden
Dazu muss man nicht viel sagen, die Forderung findet man in jeder Stellungnahme: Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden!
Spülung 2: Die drei Affen entlassen
Es hätte sich ja nichts geändert, man wusste ja nichts Genaues, was hätte man denn sagen sollen? Die drei Affen aus der bekannten Darstellung (nichts sehen, nichts sagen, nichts hören) sind in der Kirche kultivierte Tiere. Erste Anfänge und einige Verantwortliche machen Hoffnung, dass Kommunikation auf Augenhöhe gelingen kann, doch die Gefahr zur Rückkehr in die alten Reflexe ist groß.
Spülung 3: Klerikalismus benennen und abbauen
Ja, werden die meisten Berufskolleg*innen sagen. Das ist unzweifelhaft ein bestimmendes Thema. Das Priesterbild mit seiner Verknüpfung aus Macht, Amt und Heiligkeit muss auf den Prüfstand. Auch Priester, die ihre Macht nutzen, Arbeit von ehrenamtlichen Mandatsträgern zu diskreditieren oder Finanzmittel nach eigenen Prinzipien zu vergeben, müssen frühzeitig zur Rechenschaft gezogen werden. Insgesamt: Priester müssen besser und ehrlicher ausgebildet werden, teamfähiger und wertschätzender. Das dient auch den Priesterkollegen, sagen die ausgebildeten Feministinnen und Priesterversteher*innen. (Ja, das geht in unserem Beruf gut zusammen, entgegen aller Theorie.) Aber Klerikalismus meint mehr, meint eine Grundhaltung.
Ich kenne einige Klerikalist*innen unter den Gemeindereferent*innen, Valentin Dessoy entlarvt sie als vom Amt abgeleitet: Es gäbe „den großen Pastor, den mittelgroßen und den kleinen Pastor“[3], auch Kolleg*innen, die an der Macht des Amtes partizipieren. Wir tun so oft, was wir nicht dürfen! Befördern wir damit nicht auch den Klerikalismus? Und dort, wo es immer weniger Priester gibt, ist die Versuchung groß, Entscheidungsprozesse zu beeinflussen, Macht zu übernehmen und damit als Amtsträger*in zu agieren.
Als Herausforderung sehe ich auch den Klerikalismus der Gläubigen, ein Phänomen, das wir als Gemeindereferent*innen oft persönlich nehmen. „Unsere Veranstaltung war gar nicht wertgeschätzt, es war kein Pastor da…“, „Sie haben den ökumenischen Gottesdienst wirklich ganz gut gestaltet, aber es war doch eine Stadtveranstaltung, hatte der Pfarrer keine Zeit?“, oder Projektgruppen, in denen gut und partizipativ gearbeitet wird, aber am Ende die Frage gestellt wird, was denn der Pfarrer dazu meine…
Spülung 4: Kommunikation des Verschweigens dekultivieren
Es gibt so vieles, über das wir in der Kirche nicht sprechen. Vor allem in Fragen der Sexualmoral gilt das, das wird jetzt an den aufgedeckten Missbrauchsfällen und ihren begünstigenden Faktoren offenbar. Als wir als Berufsverband im Jahr 2015 eine Umfrage abschlossen, die wir auf Anregung der Kommission IV der Deutschen Bischofkonferenz bundesweit unter Berufskolleg*innen durchführten, sorgte eine einzige Fragestellung und ihre Vorabveröffentlichung für eine uns unverständliche Rückmeldung. Wir hatten gefragt: „Sollten Ihrer Meinung nach GR bzw. PR in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft ihre Anstellung bei der katholischen Kirche behalten dürfen?“[4]. Eine große Mehrheit (über 90 %) befürwortete, dass auch offen homosexuell lebende Kolleg*innen einer Beschäftigung im kirchlichen Dienst weiter nachgehen sollten, die meisten davon waren der Meinung, sie sollen weiter als Gemeinde- oder Pastoralreferent*innen tätig sein. Noch höher war die Zusage für Kolleg*innen in gescheiterten Beziehungen im Falle einer erneuten Eheschließung. Auf teiloffiziellem Wege durch ein Telefonat der Geschäftsführung der Kommission ließ man uns seitens des leitenden Bischofs ausrichten, damit hätten wir jegliche Gesprächsbereitschaft verspielt. Wie könne man so eine Frage stellen - und wie könne man solche Ergebnisse dann auch noch veröffentlichen?
Nachdenklich reagierte ein diözesaner Personalverantwortlicher auf diese Veröffentlichung mit dem Satz: „Wir dachten immer, der Riss der Einschätzung in dieser Frage verliefe zwischen Kirche und Gesellschaft… aber er verläuft ja innerhalb der Angestellten unserer Kirche.“
Es sind die sogenannten „Heiße-Eisen“-Themen, in denen Doppelmoral gelebt wird: Sexualmoral, Zölibat, Frauenfrage und Macht.
In der Theologie unseres Berufes wird als großer Vorteil im Vergleich zum Amt die große Nähe zur „Welt“[5]dargestellt, aber da, wo es offensichtlich ist, ist dies kein Vorteil mehr, sondern mit teilausgesprochenem Schweigeverbot belegt. Und es ist ja tatsächlich so, dass Abmahnungen und Kündigungen drohen. So vielen Menschen leben darum in versteckten Beziehungen!
Das betrifft insgesamt kirchliche Mitarbeiter*innen, aber auch Berufskolleg*innen und viele Priester. Die meisten von uns kennen verdeckte Beziehungsgeschichten, auch homosexuelle! Aber offen reden darf man nicht.
Spülung 5: Kein Weichspüler für die notwendige Veränderung!
Die Veränderungsbedürftigkeit der kirchlichen Strukturen ist offenbart und vereinbart. Achten wir auf die Weichspültendenzen!
Der Kommunikationsprozess der DBK mit dem ermunternden Abschlussdokument „Gemeinsam Kirche sein“[6] benannte Themenschwerpunkte. „Frauen in Leitungspositionen“, „authentische Gesprächspartner“ werden…[7], auch die beschriebene Gesprächsatmosphäre bei Familien- und Jugendsynode lassen hoffen. Aber schon beginnen manche, zurück zu rudern, vorschnelle geistliche Interpretationen zu formulieren und strukturelle Gesetzmäßigkeiten zu bemühen.
Die Hütte brennt, die Leute rennen raus, aber wir richten noch immer das Wohnzimmer unserer Kirche her. Es gilt, immer neu den Finger in die Wunden zu legen, Veränderungen anzumahnen, nicht müde zu werden und nicht vorschnell damit abzulenken, dass jetzt wieder die Botschaft neu in Blick zu nehmen sei und nicht so sehr die Struktur anzuschauen.
Spülung 6: Missbrauch von sexueller und moralischer Macht als Verrat an den Sakramenten erkennen
Sakramente sollen Heilszeichen Gottes sein und dem Leben und der Gotteserfahrbarkeit der Menschen dienen. Am Beispiel der Beichte merkt man deutlich, wie Intention und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Der Missbrauchsstudie kann man auch entnehmen, dass bis zu 25.5% der Vergehen im Beichtstuhl stattfanden (Beschuldigte geben 16%, Betroffene 25,5% an.) oder auch im Umfeld von Gottesdiensten.[8] Das Gespür, dass die Beichte nicht immer ein Schutzraum ist, hat der Volksmund in „Witzen“ schon immer kommuniziert. Wie verständlich unter dem nun bestätigten Hintergrund und angesichts der vermuteten Dunkelziffer auch verbaler Übergriffigkeiten, dass die Beichte an Relevanz verloren hat!
Auch die anderen Sakramente sind seitens der Kirche zu lange mit einer Erwartungshaltung belegt gewesen. Angesichts vielerorts 6%iger Besucherzahl der Sonntagsmesse, dem Rückgang von Firm-, Tauf- und Trauzahlen und vermutlich Krankensalbungen kann man auch hier fragen, inwieweit die vermutete und postulierte moralische Deutungsmacht der Kirche in die Verlustsphäre geraten ist. Das Heil, das sich in den Sakramenten zeigen sollte, wird vorenthalten, unter anderem auch durch pervertierten Gebrauch von Macht!
Spülung 7: Der Zukunft ehrlich entgegensehen
74 Neupriester weihen wir in der Katholischen Kirche Deutschlands derzeit pro Jahr. Ihnen stehen 23Mio.311.321 Katholiken gegenüber[9]. Es ist doch ein Fakt: Weihe und Macht müssen sich sowieso entkoppeln, der Ruf nach Glaubwürdigkeit auch in Bezug auf die Rolle der Frau ist nicht gefälliges Umdenken, sondern Einsicht in die Notwendigkeiten, wenn das System Kirche sich nicht selbst zerlegt… Unsere berufsverbandlichen Überlegungen zum Rollenprofil, die Aktivitäten der Bistümer zur Neuumschreibung der pastoralen Aufgaben: sind sie zukunftsgestaltend oder ein hektisches Treten in der Milch, bis Quark daraus wird?
Ein Freund von mir mit ähnlichen Entzündungsbeschwerden hat eine Wurzelspitzenresektion machen lassen. Ein paar Schmerzmittel für den ersten Tag, noch etwas Wundbeschwerden und dann war Ruhe. Eine Alternative? Mein Zahnarzt sagt: Beides kann schiefgehen. Statistik hilft da nicht, es kommt auf die Selbstheilungskräfte des Körpers an. Vielleicht muss der Zahn so oder so raus?!
Wurzelspitzen(sic!)resektion in der Kirche? Ein jüngerer Kollege kommt von einer Fortbildung und sagt resigniert: „Vielleicht ist das System zu stark. Vielleicht muss man sterben lassen und neu gründen…“
Mein Zahnarzt sagt: es kommt jetzt darauf an, nicht zu früh dicht zu machen. Sonst schwärt die Entzündung unter dem Deckel weiter und dann geht alles hoch und der Zahn wird gezogen.
An diesem Punkt steht auch unsere Kirche: Zu früh für Hoffnung. Zu früh zum Zumachen.
Und wo stehe ich? Ich habe die Zahnschmerzen.
Kommentar: Michaela Labudda (Bundesvorsitzende BV der Gemeindereferent/-innen Deutschlands e.V.)
[1] Bischof Wilmer über Bischof Josef Homeyer: „…sie haben fürchterliche Dinge zugedeckt, und das ist eine Katastrophe“ und Bischof Burger über seine Vorgänger: „Ich weiß mittlerweile: Hilferufe wurden ignoriert, rechtzeitiges Handeln unterlassen, Maßnahmen zu spät ergriffen. Ich bekenne, dass die Institution Kirche unserer Erzdiözese auf diese Weise Schuld auf sich geladen hat. Hier haben Verantwortliche wie Täter versagt.“ Quelle: www.domradio.de
[2] https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf, letzter Aufruf v. 22.10.18.
[3] Valentin Dessoy: „Kirche braucht Profis - aber keine Gemeindereferenten. Skizze einer neuen Rollenarchitektur“, in: Gemeindereferent/-innen Bundesverband, das magazin 4/2017, ISSN2191-6942, S.8.
[4] Regina Nagel: „GR wünschen sich mehr Toleranz des Dienstgebers. Änderung der Grundordnung des Kirchlichen Dienstes auch für pastorale Mitarbeiter/innen“, in: Gemeindereferent/innen-Bundesverband: das magazin 3/2015.
[5] Vgl. „Apostolicum Actuositatem. Dekret über das Apostolat der Laien“, in: Rahner, Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium, Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1966 (23.Auflage 1991), S. 361ff.
[6] Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Gemeinsam Kirche sein. Wort der Deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Pastoral, Die deutschen Bischöfe Nr. 100, Bonn 2015.
[7] Interviewzitate Kardinal Marx: www.katholisch.de
[8] „Von den Beschuldigten werden Jugendfreizeiten/Reisen und Messdienerunterricht (jeweils 22 %) sowie die Zeit vor und nach dem Gottesdienst (18 %) und die Beichte (16 %) als häufigste Kontexte genannt; diesen vier Tatkontexten kommt auch in den Interviews mit Betroffenen die größte quantitative Bedeutung zu, hier stellt die Beichte (25,2 %) gefolgt von Gottesdienst und Messdienerunterricht (jeweils 24,3 %) sowie Jugendfreizeiten/Reisen (19,2 %) den häufigsten Tatkontext dar.“ MHG-Studie S. 122, T2 Tab. 2.49-2.52. Quelle: www.dbk.de
[9] Aktuelle Zahlen von 2017, Quelle: Zahlen und Fakten der Katholischen Kirche